0. Stunde

Ich war etwa 15 Jahre alt und völlig unzurechnungsfähig. In lauen Sommernächten lief ich unter den Sternen durch die Felder zwischen Quetschememmbach und Niederklein und sang laut­hals U2-Songs. Was war es, das mich hinaustrieb in die Nacht, durch das Dunkel, schrei­end und klagend, bis mir die Stimme versagte?
In mir wuchs und tobte eine Kraft, die ich nicht verstand, die ich nicht benennen konnte. War es Sehnsucht? Aber wonach? War es Lust? Aber wozu? Und in allem schwang eine Traurigkeit mit, eine Schwermut, die trotz ihrer Unbestimmtheit stärker auf mich wirkte, als jede Zuver­sicht.
Ich fuhr jeden Tag zur Schule. Als einziger meines Jahrgangs war ich nach der 10. Klasse aufs Gymnasium in die Kreisstadt gewechselt. Nur mein fester Platz in der B-Jugend des Fußball­ver­eins bewahrte mich davor, im Dorf als Außenseiter gemieden zu werden. Auf dem Human­istischen Gymnasium war ich der naive Exot vom Dorf und nur meine Unerschrockenheit bewahrte mich davor, dass mich die verdorbenen Söhne und Töchter von Professoren, Staats­anwälten, Notaren, Politikern und Polizeichefs in Grund und Boden mobben konnten.

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Nur zwei Busse der Linie 42 fuhren morgens von unserem Dorf in die Stadt, einer um 6:10 Uhr und einer um 7:10 Uhr. Jeden Tag stand ich um 6:00 Uhr auf, frühstückte, lief quer durchs Dorf zur Bushaltestelle, nahm den Bus um 7:10 Uhr und kam um 7:40 Uhr als erster von 900 Schülern an der Schule an, 20 Minuten vor Unterrichtsbeginn.
Es war ein Mittwoch und ich saß in der vorletzten Reihe des alten, verstaubten Reisebusses der Firma Wagner. Im Bus saßen weitere fünf bis sechs müde Menschen, die in Ebersdorf, Katzhausen und Hessberg zugestiegen waren und sich auf dem Weg zur Arbeit befanden. Eines der Dachfenster stand offen, durch das die kräftige Sommermorgenluft in den Bus rauschte, als wir durch die Felder und Wiesen zwischen den Dörfern fuhren. Der Geruch von Heu und blühenden Wiesen wirbelte um unsere Köpfe und vertrieb den üblichen Dunst aus kaltem Rauch, Schweiß, Diesel und billigem Parfüm.
Der Wecker hatte mich heute Morgen aus einem sonderbaren Traum gerissen: Ich wanderte durch einen dunklen Wald und kam an ein Dickicht. Die Äste peitschten mich, als ich mich durch die Büsche schlug und dabei spürte ich, dass ich nackt war. Ich erreichte eine helle, kleine Lichtung. Die Sonne wärmte meine Haut. Ich spürte ein Kitz­eln am ganzen Körper, am Rücken, an den Knien, zwischen den Beinen. Jetzt sah ich, dass ich in einen Schwarm großer bunter Schmetterlinge geraten war. Zu meinem Befremden hatten sie kleine Mädchenköpfe mit seltsam großen Mündern und roten Lippen, die sich öffneten und an mir saugten …
Der Traum hatte mich erregt und gab mir Rätsel auf. Ich fragte mich, was weiter geschehen wäre, hätte mich mein Wecker nicht geweckt? Ich spürte noch immer das Kitzeln zwischen den Beinen. Ich saß über dem dröhnenden Dieselmotor im vibrierenden Sitz des Reisebusses und schloss die Augen. Ich wollte den Traum zurück. Ich atmete tief die kräftige und verheiß­ungsvolle Sommermorgenluft ein. Schon schlug ich mich wieder durch das Dickicht …
— Scheißeee!!!
Das Brüllen des Busfahrers riss mich aus meinem Dämmerzustand. Es klang bedrohlich und ich war auf einen Schlag hellwach. Ich beugte mich in den Mittelgang. Durch die große, flie­genverkrustete Frontscheibe sah ich gerade noch, wie wir den Fuchs überfuhren. Er war plötz­lich aus dem Unterholz auf die Straße gesprungen, mit weit aufgerissen Augen. Sein Fell war stumpf und feucht und aus seinem Maul spritzte der Geifer.
Es hatte den Anschein, als sei er auf die Straße gesprungen, um den Bus anzugreifen. Eine schreckliche Verkennung der Kräfteverhältnisse. Der Fuchs knallte gegen den Frontschein­werfer. Dann ein kurzes Rattern im vorderen Radkasten.
– Scheißdreack!
Rief der Busfahrer.
– Dollwut!
Er stoppte den Bus, um nachzusehen, welcher Schaden entstanden war. Ich stieg mit aus. Der Fuchs war verschwunden. Wir fanden keinen Kopf von ihm, keinen Schwanz, keine Beine, keine Knochen – nur Blut und Schleim und einen Fetzen räudiges Fell, der an den verblie­benen Scherben des Frontscheinwerfes hing. Ich sah zu, wie der Busfahrer mit einem alten Unterhemd notdürftig Blut, Schleim und den Fellrest vom Bus wischte, das Unterhemd in den Straßengraben warf und rief:
– Es gitt weirr! (Es geht weiter!)
Mit zersplittertem und immer noch blutigem Frontscheinwerfer fuhr unser Bauernexpress Linie 42 in die Kreisstadt ein.

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20 Minuten vor der Ersten Stunde kam ich am Gymnasium an. Außer mir war nur der Haus­meister schon da. Ich betrat die Pausenhalle. Die Tür zum Schulgarten stand offen. Ich ging in den Garten. Die Sonne schien hell und warm auf den kleinen Teich über dem zwei Libellen kreisten. Ich legte mich auf die Bank neben dem Schilfrohr. Es war still. Die Wärme der Sonne sank mir bis in die Knochen. Innerhalb von einer Minute schlief ich ein…

… ich laufe durch einen dunklen Wald … etwas jagt mich … ich schlage mich durchs Dickicht … Äste peitschen mein Gesicht … wovor bin ich auf der Flucht? … ich sehe eine Lichtung vor mir … endet da der Wald? … bin ich gerettet? … ich springe durch die letzten Zweige und renne ins Freie … ich höre ein Brüllen … ein Drache kommt mit gesenktem Kopf auf mich zugerast … ich weiche nicht zurück … ich greife an!

© Charly König 2011

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