Ein schöner Tag

Es gibt schöne Tage.

Harald Juhnke beschrieb einst einen idealen Zustand mit den Worten:
„Keine Termine – und leicht einen sitzen.“

Aber es ist nicht immer so leicht, einen Zustand zu erreichen, von dem man aus voller Überzeugung sagen kann, er sei ein idealer.

Siggi war der Sanitäter der 2. Fußballmannschaft des VfL 09 Dreihausen. Er war eingefleischter Junggeselle, der mit seiner Mutter in einem Haus in der Dorfmitte wohnte. Er verdiente sein Geld als Bauarbeiter und gab es aus für Alkohol und Zigaretten.
An den Spieltagen ssaß er mit seinem Rot-Kreuz-Köfferchen an der Mittellinie bereit und sprang auf, sobald einer von uns am Boden lag. Er nahm nur langsam Fahrt auf. Siggi war 1,50m groß und wog gute 90 Kilo. Nicht selten brauchte er so lange, um zu dem Verletzten zu kommen, dass der schon längst wieder auf den Beinen war und weiter spielen konnte. Dann stand Siggi mit seinem Köfferchen wie verloren mitten auf dem Fußballfeld und musste unverrichteter Dinge den Rückweg antreten, für den er meist noch länger brauchte als für den Hinweg.
Wenn er aber rechtzeitig bei einem Verletzten war, setzte er seine beiden Wunderwaffen ein: Eis-Spray und Sprühpflaster. Egal ob Zerrung, Dehnung oder Prellung, Siggi hüllte den angeschlagenen Spieler in eine dichte Wolke aus Eis-Dampf. Siggi hielt das Spray einen Zentimeter über die betroffene Stelle und drückte ab. Meist solange, bis der angesprühte vor Schmerz aufschrie und in letzter Sekunde die Dose mit der Hand wegschlug, bevor der Gefrierbrand einsetzte.
Sein letztes Spiel hatte Siggi vor über zehn Jahren gemacht. Er beschloss, seiner Karriere ein Ende zu setzen, als er ein letztes seiner seltenen Tore erzielt hatte: Er hatte deinen Schuss mit seinem Bierbauch unhaltbar abgefälscht.

An einem Sonntag im Mai hatte sich die zweite Mannschaft in der Gastwirtschaft Uewwe getroffen, um zum Auswärtsspeil nach Lohra zu fahren. Alle tranken ein Wasser, ein Cola, ein Lift – nur Siggi trank ein erstes Bier.
Wir sitzen schon in den 4 Autos und rollen vom Hof, da sehen wir Uewwe Dengel aus der Kneipentür stürzen und mit den Armen wedeln: Ein Anruf aus Lohra, das Spiel ist abgesagt, sie kriegen keine 11 Mann zusammen.
Also alle wieder raus aus den Autos und rein zu Uewwe.
Und jetzt? Was sollte jetzt geschehen? Der Tag kaum angebrochen und läuft ganz anders als erwartet. Aber denk doch mal nach, er läuft besser als erwartet. Denn wir brauchen nicht nach Lohra fahren und das Spiel wird 2:1 für uns gewertet. Es ist Siggi, der die Lage als erster erfasst, als er sagt:
– Aich sa’n ach, woas mir ma! Mir bleiwe häi beim Dengel, trinke enner, en gieh in zwee Stunn zour Erschte!
Er hatte Recht, na klar! Jetzt wo wir nicht nach Lohra fahren mussten, konnte wir das Spiel der Ersten Mannschaft besuchen. In rund 2 Stunden war Anpfiff gegen die verhassten Katholiken des SV Mardorf.
Und alle waren dabei, keiner ging nach Hause. Der Tag nahm Fahrt auf. Uewwe Dengel warf die Zapfanlage an (Licher Export) und teilte Würfel und Karten aus.

Wir hatten schon eher schwer als leicht einen sitzen, als wir zum Sportplatz kamen. Dort ging es weiter und das Spiel hielt allen Erwartungen stand. Es war eine hitzige Schlacht mit 3 Roten Karten und dem Siegtreffer für den VfL Dreihausen kurz vor Schluss. Da hatte Siggi aus Übermut die Dose mit dem Eisspray auf einen Riss geleert, hatte sie aus dem Rot-Kreuz-Köfferchen geholt und den Finger auf den Sprühkopf gedrückt, bis eine meterlange, weiße Dampfwolke über dem Sportplatz aufstieg. Die Begeisterung kannte keine Grenzen.
Bei der kleinen, obligatorischen Schlägerei zwischen katholischen und lutherischen Zuschauern nach Spielschluss konnte dann wiederum Siggi mit dem Rot-Kreuz-Köfferchen einen schönen Wirkungstreffer gegen den Kopf eines Katholiken landen, dessen Schürfwunde er anschließend eigenhändig mit dem Sprühpflaster behandelte und ihm dabei selbstverständlich aus Versehen ins Auge sprühte.

Um 17 Uhr war das halbe Dorf bei Uewwe und die Sauferei ging weiter. Gegen 20 Uhr waren die Halben Hähnchen mit Pommes Frites aus und es musste der Pizza-Bringdienst aus Marburg angerufen werden.
Weshalb sich Siggi ausgerechnet eine Brokkoli-Pizza bestellte, bleibt mir immer ein Rätsel. Kein Rätsel allerdings blieben mir die letzten Worte Siggis an diesem denkwürdigen Tag. Er sagte sie, kurz bevor er an der Tischkante der hinteren Sitzecke einschlief. Ich saß ihm gegenüber und bin der einzige, der hörte, was Siggi sagte. Er hatte soeben sein Bier geleert und dann das letzte Stück Pizza zum Mund führen wollen und hatte zum bestimmt zehnten Mal hilflos mitansehen müssen, wie das Brokkoli-Röschen den Halt verlor und zu Boden fiel, dorthin, wo schon rund ein Dutzend Brokkoli-Röschen in einer Bier-Lache schwammen. Doch dieses Mal beißt er nicht einfach ab und isst das Stück Pizza ohne Brokkoli auf. Diese Mal legt er das Stück Pizza wieder zurück, senkt den Kopf und blickt nach unten auf den im Bier schwimmenden Brokkoli.
Dann höre ich seine letzten Worte, bevor er seinen Kopf auf den Arm legt und einschläft.
– Woas fiern schiener Doag!

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