„Du sollst eine gute Geschichte
NICHT durch die WAHRHEIT
verderben!“
(Irisches Sprichwort)
Mein Onkel Walter besaß die Fähigkeit, eine Lüge zum Leben zu erwecken. Der ältere Bruder meiner Mutter hatte ein grünes und ein blaues Auge. Ich war mir nie sicher, ob sein linkes Auge grün war und das rechte blau oder umgekehrt. War ich mir gerade sicher, dass sein linkes Auge grün war, neigte Walter leicht den Kopf und im wechselnden Licht erschien auf einmal das linke Auge blau und das rechte grün.
So ging es mir auch mit den Geschichten, die er erzählte. War ich mir gerade sicher, ihn bei einer Lügengeschichte ertappt zu haben, machte er eine beiläufige Bemerkung oder gab der Erzählung eine Wendung und ich war mir wieder gar nicht mehr so sicher, ob er nicht doch alles, was er erzählte, auch wirklich erlebt hatte.
Zum Beispiel die Geschichte vom afrikanischen Taucher Tree-Joe, der eines Tages von Bord eines deutschen Handels-Schiffes in die Nordsee sprang und ohne Sauerstoffflasche bis auf den Grund tauchte, um Walters Armband-Uhr nach oben zu holen, die ihm beim Kartoffelschälen an Deck vom Handgelenk geglitten, über die Reling gerutscht und schließlich in die trüben Fluten gefallen war, wo sie augenblicklich versank. Ich dachte: „Nee, nee, Walter, mich verarschst du nicht, den Tree-Joe hat’s nie und nimmer gegeben!“ und ich will es schon aussprechen, als plötzlich Walters Augenfarbe zu wechseln scheint und er weitererzählt:
– Die Beerdigung vom Tree-Joe vergesse ich nie! Drei Wochen später isser wieder Mal ins Meer gesprungen und nie wieder aufgetaucht. Ich weiß auch nicht mehr, warum eigentlich, wahrscheinlich wollte er nen Tümmler mit bloßen Händen fangen. Wir mussten nen leeren Sarg auf’m Friedhof in Dublin begraben. Normalerweise tragen immer sechs Mann einen Sarg – mit Inhalt. Den leeren Sarg vom Tree-Joe haben wir zu zweit getragen, der Smutje von unserem Schiff und ich. Im strömenden irischen Regen vorbei an allen katholischen Familiengruften bis an den Rand vom Friedhof. Obwohl er nicht getauft war und an rund hundert Götter geglaubt hat, anstatt an einen, hat er ein Kreuz gekriegt.
Walter schweigt und er sieht aus, als gedenke er seinem alten Freund, dem besten Taucher der Welt, Tree-Joe, der seine Nasenflügel so weit aufblähen konnte, dass er sich links und rechts eine Zitrone reinstecken konnte. Und ich bedaure es sehr, ihn nie kennengelernt zu haben.
Ein anderes Mal macht Walter eine beiläufige Anspielung zu einer Geschichte, die mir meine Mutter schon oft erzählt hat und deren Wahrheitsgehalt mir von meinem Opa, meinem Vater oder einer Tante bestätigt worden war und ich bin mir keineswegs mehr sicher, ob es nicht vielleicht meiner Mutter zuzutrauen sei, diese Geschichte völlig frei erfunden zu haben.
Im Spätsommer des Jahres 1966 fand im Frankfurter Waldstadion ein Sportereignis statt, dem die ganze Welt entgegenfieberte: Der Weltmeisterschaftskampf im Schwergewicht zwischen Muhammad Ali und seinem deutschen Herausforderer Karl Mildenberger.
Allerdings hatte Karl der Große, wie er nach dem Kampf mit Ali genannt wurde, in den Wochen vor dem Kampf ein wirklich großes Problem: Ihm waren innerhalb kürzester Zeit sämtliche Sparringspartner abhanden gekommen. Amerikanische Boxer, die vorgesehen waren, hatten angeblich sehr kurzfristig abgesagt und andere, die als Ersatz verpflichtet wurden, seien einfach nicht erschienen. Und so gab es im Sommer des Jahres 1966, wenige Wochen vor dem großen Kampf, in den Äbbelwoi-Kneipen Frankfurts nur ein Thema: Wo kriegt der Mildenberger einen Sparringspartner her?
Genau zu dieser Zeit sitzen mein Onkel Walter und mein Vater, der Hans-Udo, in einer Äppler-Kneipe in Sachsenhausen und sind nach dem ersten Bembel schon pleite. Walter war damals 26 Jahre alt und „Handlungsreisender“, reiste aber selten und trieb sich im Frankfurter Bahnhofsviertel oder eben in Sachsenhausen rum. Mein Vater war 21 und in der Form seines Lebens. Er spielte Wasserball, konnte so gut wie jeden unter den Tisch trinken und studierte nebenher an der Goethe-Universität. Beide teilten sich eine 1-Zimmer-Mansarden-Wohnung.
Es sieht stark danach aus, als sei der Abend vorbei, denn sie kennen keine Seele in dieser Strauchwirtschaft und sie wissen, dass der Versuch bei einem Sachsenhäuser Wirt anschreiben zu lassen ebenso erfolgsversprechend ist wie die Eisbärenjagd an den Ufern des Euphrat. Als Walter wortlos aufsteht, denkt Hans-Udo, er wolle noch kurz aufs Klo, bevor sie gehen. Stattdessen wandert Walter schnurstracks zum Stammtisch neben dem Tresen und verwickelt die Männer in ein Gespräch. Hans-Udo wundert sich, denn er weiß, dass Walter keinen der Männer kennt. Und als Walter kurze Zeit später ein randvoll eingeschenktes Geripptes in der Hand hält und ihm durch die Kneipe hinweg zuprostet, weiß er nichts damit anzufangen und lächelt blöde und unwissend zurück.
Dann stellt Walter das Gerippte auf den Tisch und fuchtelt mit den Armen. Es sieht fast so aus, als boxe er eine Kombination aus Haken und Geraden in die Luft. Die Männer am Tisch machen große Augen und Hans-Udo fragt sich langsam, was für eine dreiste Lügengeschichte der Walter da schon wieder erzählt, als er mitansehen muss, wie Walter mit dem Finger in die Ecke zeigt, in der er sitzt. Die Männer recken jetzt die Hälse und glotzen neugierig, bewundernd und ehrfürchtig rüber zum Hans-Udo. Währenddessen lacht Walter meinem Vater zu – und zeigt ihm ein geheimes Augenzwinkern.
Er lässt sich einen Bembel füllen und kommt zurück.
– Was zum Kuckuck hast du denen da erzählt?
– Ei, dass du der Sparringspartner vom Mildenberger bist! Igor Romanow Bolschoi, heute Abend frisch eingetroffen, direkt aus der UdSSR. Und ich bin dein Manager.
– Das ist nicht wahr!
– Na klar ist das wahr, Udo, die glauben alle dran. Guckse dir doch an da drüber, wie die hier rüberglotzen. Die sind richtig scharf darauf, dich kennenzulernen.
– Wie? Mich Kennenlernen?
– Ja, sicher! Ich hab denen gesagt, wenn unser Bembel leer ist, dürfen sie einen vollen bringen und sich kurz zu uns an den Tisch setzten.
– Walter, ich kann kein Wort Russisch und hab vom Boxen keine Ahnung.
– Udo, das einzigste, was du sagtst, ist „Nastrowje“! Ansonsten sitzt du hier und trinkst. Das ist die Sensation: Igor Romanow Bolschoi, der langersehnte, geheime, Sparringspartner vom Mildenberger sitzt hier bei denen in den Äppler-Kneipe und petzt die Schoppen. Und sie sind die ersten und vielleicht auch einzigen, die ihn kennenlernen. Das ist doch alles streng geheim! Die Presse darf davon kein Sterbenswörtchen erfahren, dass der Mildenberger mit nem Russen sich auf den Muhammed Ali aus den U.S.A. vorbereitet. Es herrscht doch Kalter Krieg!
Was blieb dem Udo in diesem Augenblick übrig, als mitzuspielen? Anfangs war er zwar noch sauer auf Walters eigenmächtiges Vorgehen, doch nach dem zweiten Glas des spendierten Äpplers ergab er sich dem Schauspiel, das Walter aufgezogen hatte. Und als der erste Bembel leer war und gleich darauf der zweite an den Tisch gebracht wurde, fand er Gefallen an seiner Rolle und spielte den schweigenden und Äppler trinkenden Igor Romanow Bolschoi so überzeugend, wie es ein echter Russe nie geschafft hätte. Weder der Wirt, noch einer der anderen Gäste, zweifelte auch nur einen einzigen Augenblick lang daran, dass Walter die Wahrheit sagte. Es war einfach zu sensationell. Sie wollten es alle glauben, dass sie mit dem geheimen Sparringspartner vom Mildenberger am Tisch ihrer Stammkneipe sitzen und Äppler trinken. Mit jedem stieß Udo an:
– Nastrowje!
Als einmal einer wagte zu bemerken, für einen Boxer trinke der Igor aber reichlich viel, antwortete Walter:
– Der Igor hat überragende Nehmerqualitäten, im Ring und beim Trinken!
Und alle nickten: Ja, so muss es wohl sein.
– Außerdem müsst ihr euch klar machen, dass der daheim nur Vodka trinkt. Dagegen is unser Äppler das reinste Selters.
Am Ende waren der Walter und der Igor und der Rest der Kneipe so besoffen und so restlos glücklich, dass kein Mensch mehr weiß wie und wann genau die Nacht endete. Irgendwann hatte der Wirt Türen und Fenster verschlossen und die „geschlossene Gesellschaft“ ausgerufen.
Als Walter und Udo am folgenden Mittag mit furchtbarem Kater in ihrer Mansarden-Wohnung aufwachten, stand ein 10-Liter-Plastikkanister mit bestem Stöffchen neben dem Bett. Den hatte man dem Igor wohl noch mitgegeben, damit er bloß nicht aus der Übung kommt.
Es war mein Vater, der mir immer wieder von dieser großartigen und dreisten Lügengeschichte Walters erzählt hat. Als ich Walter bei einer großen Familienfeier traf, kurz bevor sein Steuerbetrug aufflog und er nach langen Verhandlungen kurz einsitzen musste, fügte er folgendes Nachspiel hinzu:
– Niggo, Jahre später bin ich mal wieder in die Kneipe rein – ich hatte mich da möglichst lange nicht blicken lassen – und einer von den Stammtischtypen hat mich sofort wiedererkannt. Aber anstatt mir eine reinzuhauen, weil ich ihn für dumm verkauft und ihm die Bembel ausm Kreuz geleiert habe, hat er mich umarmt und mir einen Äppler nach dem anderen ausgegeben. Und dann fing er an zu erzählen von damals, vom Igor Romanow Bolschoi, dem geheimen Sparringspartner vom Karl den Großen: „Da hinne im Eck saß’er. Hier, solche Aame hadde der, der Igor. E fein Kerlchen war das. Und Schoppe petze konnt’er wie kaan zwater. Der trank die Äppler wie Selter“ Das war die Story seines Lebens. Der arme Kerl war so überzeugt davon, dass das alles gestimmt hat, dass ichs am Ende fast selbst geglaubt hab.
© Charly König 2015