(Hannchen-Jensen-Torte)
Am Tag der Konfirmation meiner Schwester im Jahr 1981 wurde der letzte „Schwimmbadkuchen“ angeschnitten, der je in unserem Dorf auf einer Kaffeetafel stand. Und das kam so.
Wie in allen Dörfern Hessens – und wahrscheinlich auch in allen Dörfern Deutschlands – standen noch in den 1980er Jahren auf jeder größeren Kaffeetafel anlässlich von Taufen, Geburtstagen und Konfirmationen sowie allen möglichen Jubileen ebensoviele Kuchen auf dem Tisch wie Gäste eingeladen waren. Neben Kuchen wie Frankfurter Kranz, Schwarzwälder Kirsch, Buttercremetorte, Maddekuche (Käsekuchen), Streuselkuchen, Schmandkuchen oder diversen Obstkuchen (je nach Saison Ärwin, Rhabarber, Quetsche oder Äbbel) durfte ein Kuchen niemals fehlen: der „Schwimmbadkuchen“.
Ein „Schwimmbadkuchen“ war eigentlich gar kein Kuchen, sondern eine mit Sahne und Stachelbeeren gefüllte Torte mit einem Deckel aus Baisser und gerösteten Mandelsplittern.
Weshalb aber die Torte diesen Namen trug, war weder logisch zu erklären, noch gab es irgendeine andere schlüssige Begründung. Selbst Frauen, wie zum Beispiel Gassa Herta, die so ungefähr einen „Schwimmbadkuchen“ pro Woche buk, hatte vom Ursprung des Namens keinen blassen Schimmer.
Meine eigenen Überlegungen brachten mich auch nicht weiter. Ich dachte darüber nach, ob dieser Kuchen vielleicht – früher einmal – besonders gerne ins Schwimmbad mitgenommen wurde, um ihn, nach dem Schwimmen, auf der Liegewiese zu essen. Dagegen sprach allerdings, dass der Kuchen wegen der vielen Sahne instabil und nicht im geringsten Wärmeresistent war. Er zerlief meist schon beim bloßen Anschneiden, spätestens aber, wenn er auf einen Teller geschaufelt wurde.
Vom Aussehen her konnte man auch unter Aufwendung aller Fantasie niemals auf ein Schwimmbad schließen. Der Deckel aus Baisser und gerösteten Mandelsplittern war zwar ein wenig gewellt, aber wie man von Wellen auf Schwimmbad schließen konnte, war mir nicht klar. Hätte er dann nicht Wellenkuchen heißen sollen?
Der Name des Kuchens blieb für mich ein Rätsel, was seinen Zauber noch steigerte. Es war mein erster Lieblingskuchen und ich freute mich, wenn ich sagen konnte:
— Ich hätte gerne ein Stück vom „Schwimmbadkuchen“!
Zur Kaffeetafel anlässlich der Konfirmation meiner Schwester waren neben unseren Verwandten – den Onkels und Tanten, Cousins und Cousinen, Omas und Opas – auch die Nachbarn eingeladen und zu meiner großen Freude auch die Freundin meiner Mutter: Gasse Herta.
Beide waren in der Dreihäuser Gymnastikgruppe aktiv, die sich immer dienstags in der alten Turnhalle neben der Schule traf. Gasse Herta backte den unangefochten besten „Schwimmbadkuchen“ des Dorfes.
Am Tag der Konfirmation kam sie eine Viertelstunde vor der Zeit und stellte den sahnigsten, fruchtigsten und knackigsten Schwimmbadkuchen, den ich je gesehen hatte, auf den Tisch in unserem Wohnzimmer. Sofa, Sessel und Fernseher hatten wir rausräumen müssen, um Platz zu schaffen für alle 24 geladenen Gäste.
Vom Hof gegenüber, einem jener kleinen Landwirtschaftsbetriebe mit Vieh- und Feldwirtschaft, die es heutzutage nicht mehr gibt, kam Familie Schlender, Dorfname Eulersch, zum Kaffeetrinken. Die alte Frau Schlender, genannt Eulersch Omma, kam in Tracht, mit Schnatz, Stülpchen, Leibchen, Motzen und 7 Röcken. Eulersch Omma sprach nur Platt. Hochdeutsch hatte sie nie ernsthaft gelernt.
Das machte ihr große Sorgen. Sie wusste, bei uns zu Hause wird Hochdeutsch geredet. Auf dem Weg zu unserem Haus kam sie an den zwei Autos meiner Onkels vorbei und sah, dass sie Frankfurter Kennzeichen trugen. Die beiden großen F auf den Nummernschildern steigerte ihre Anspannung zusätzlich. Ich vermute, sie wird sich vorgenommen haben, am Kaffeetisch am besten kein einziges Wort zu sprechen. Es wäre doch sehr blamabel, säße sie mit vornehmen Leuten aus der großen Stadt am Tisch sitzt und spräche Platt!
Sie saß schweigend und mit gefalteten Händen am Tisch neben ihrer Tochter Trine. Der Kaffee war ihr schon eingeschenkt worden, jetzt ging es an den Kuchen. Meine Mutter wollte zuvorkommend sein und sprach Eulersch Oma direkt an:
— Ei, Frau Schlender, was kann ich Ihnen denn für ein Stück Kuchen geben?
Eulersch Omma zuckte zusammen. Die Trine neben ihr redete gerade laut mit Gasse Herta und konnte ihr nicht helfen. Sie geriet in große Not, dass sah ich ihr an. Ich saß ihr gegenüber und konnte beobachten, wie sie nach einem Ausweg suchte. Es wäre unhöflich gewesen, hätte sie mit dem Finger schweigend auf eine der Torten gezeigt. Die Zeit raste. Meine Mutter stand vor ihr mit der Kuchenschaufel in der Hand und wartete.
Da nahm sich Eulersch Omma ein Herz und ihr ganzes Hochdeutsch zusammen und sprach:
— Aich hätte gerne ein Stickelche vu dem Boadeostaltskuche.
Meine Mutter zögerte. Sie hatte nicht verstanden. Das heißt, sie hatte verstanden, was Eulersch Omma gesagt hatte, aber nicht, was es bedeuten konnte.
Auch ich hatte gehört, was sie gesagt hatte, wusste aber zunächst auch nichts damit anzufangen. Was sollte das denn sein, ein „Badeanstalts-Kuchen“?
Meine Blicke schweiften über die zwei Dutzend Kuchen und Torten, die auf dem Tisch standen. Dann wusste ich es! Ich sagte:
— Ei, Mama, die meint den „Schwimmbadkuchen“!
Eulersch Oma nickte leicht und meine Mutter schaufelte ihr ohne ein weiteres Wort ein Stück „Schwimmbadkuchen“ auf den Teller.
Mein rechtes Auge begegnete dem linken Auge meiner Mutter und wir einigten uns schweigend darauf, dieses Intermezzo diskret zu behandeln. Und wer weiß, vielleicht wäre es bei einem Witz innerhalb der Familie geblieben, zum „Schwimmbadkuchen“ auch schon mal „Badeanstaltskuchen“ zu sagen.
Aber wir hatten die Rechnung ohne Gasse Herta gemacht, die wie immer sehr genau darauf achtete, wer von ihrem Kuchen aß.
Auf Platt sprach sie Eulersch Oma, alias Elisabeth „Lisbeth“ Schlender, an:
— Ei, Kerle, Lisbeth, wäi host’e däi Torte genannt? Boadeostaltskuche?
Eulersch Oma, tat als sei sie taub. Sie aß schweigend ihren Kuchen. Aber es war zu spät, Gasse Herta bekam einen ihrer gefürchteten Lachanfälle.
— Aich gläwe’s net, aich lach mer en Ast! Boadeostaltskuche hott’se gesäät.
Gassa Herta lachte jetzt so heftig, dass ich noch dachte „Hoffentlich pisst sie sich vor Lachen nicht wieder ein, wie letztens beim 70. von Schmiesels Geurch!“
Eulersch Oma saß hingegen weiter auf ihrem Platz, behielt Haltung und tat, als sei nichts geschehen. Sie aß den Kuchen sehr vornehm mit kleinen Bissen, während alle am Kaffeetisch, die Platt verstanden, sich schlapp lachten und alle anderen sich verwundert ansahen.
Seit diesem Konfirmationskaffee im Jahr 1981 sagt niemand in unserem Dorf mehr „Schwimmbadkuchen“ zur Stachelbeer-Baisser-Torte. Eulersch Oma hatte den Kuchen mit dem einzigen Satz für immer und ewig umbenannt in „Boadeostaltskuche“. Es war Gasse Herta, die die Umbenennung durchsetzte und populär machte. Aber die Ehre, den neuen Namen in die Welt gesetzt zu haben, gebührt einzig und alleine Elisabeth Bender, genannt Eulersch Oma.
Und so war also der Kuchen, den Gasse Herta damals eine Viertelstunde vor der Zeit auf unseren Kaffeetisch stellte, der letzte „Schwimmbadkuchen“, der je in unserem Dorf gebacken wurde.
© Charly König 2011