Däi zwä Missgebiader

Im Frühling ’95 sitze ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer meiner Eltern. Das Fenster neben dem runden Tisch, an dem wir Kaffee trinken, öffnet den Blick aus dem ersten Stock nach unten auf den Dorfplatz von Argenstein an der Lahn. Wir sind soeben in ein ernstes Gespräch vertieft über die Frage, welcher Metzger wohl die beste Leberwurstblase macht, der in Ebsdorf oder der in Hachborn, als meine Mutter mitten im Satz aufhört zu reden, den Hals Richtung Fenster reckt und einen scharfen Blick aus dem Fenster wirft.

Es scheint, als habe sie im Augenwinkel eine Bewegung vor dem Fenster wahrgenommen, die ihre Aufmerksamkeit bindet. Ich beobachte meine Mutter mit amüsierter Verwunderung und warte ab, was weiter geschieht. Schon in der nächsten Sekunde steht sie vom Tisch auf und schleicht zum Fenster. Mit der linken Hand schiebt sie die dünne Gardine leicht zur Seite, wirft einen Blick nach unten auf den Dorfplatz und sagt:

– Hier, guck, da komme se widder!
Sie äugt wie ein Spion durch den Spalt in der Gardine und lockt mich mit dem Zeigefinger zu sich. Ich habe keine Ahnung, wen sie meint.

– Wer kommt da widder?
– Ei, es Dinche un „däi zwä Missgebiader“!
Mein Interesse ist geweckt. Was gibt es unten auf dem Dorfplatz zu sehen, das meine Mutter in Entzücken versetzt? Wer „es Dinche“ ist, das weiß ich: unsere Nachbarin Katharina, eine einfache Mittvierzigerin mit goldblondgefärbter, wöchentlich wechselnder, Dauerwelle.

An der Reaktion meiner Mutter lese ich allerdings ab, dass es heute dort unten mehr zu sehen gibt, als eine neue völlig misslungene Dauerwelle. Und was meint meine Mutter eigentlich mit „däi zwä Missgebiader“? Erstens entspricht das nicht ihrer Ausdrucksweise und zweitens, welche zwei Missgeburten könnte Katharina an ihrer Seite haben? Sie haben ja nur einen erwachsenen Sohn, der Fußball spielt und vernünftiger ist als der Rest der Familie.

Ich stehe auf und stelle mich neben meine Mutter. Durch den Spalt in den Gardinen sehe ich sie, „däi zwä Missgebiader“: zwei weiße Fellbällchen, die an den Enden von Hundeleinen wie verrückt um Katharina umher springen.

– Was ist das?
– Ei, Niggo, das sin die zwei Hundche vom Yeboah!
Die beiden garstigen weißen Fellbällchen zerren mit wilder Wut an den Leinen. Sie springen von links nach rechts, springen das Dinchen an und machen insgesamt den Eindruck als seien sie irrsinnig geworden. Tollwütige Bestien, die man besser erschießen sollte. Doch es macht mir andererseits großen Spaß dem armen Dinche aus unserem sicheren Hinterhalt dabei zuzusehen, wie sie dem Gezappel der beiden völlig hilflos ausgeliefert ist. Und ich merke, wie es meiner Mutter genau so geht.

Dinches Arme werden an den Leinen hin und her gerissen. Ihre Bewegungen sehen aus, als ob ihre Gelenke mit unsichtbaren Fäden verknüpft wären, an denen ein Puppenspieler zupft, den eine schwere Schüttellähmung quält. Ich bin fasziniert von dieser grotesken Performance. Meine Mutter kann sich kaum noch halten vor Lachen.

– Niggo, jeden Tag! Seit zwei Wochen geht das jeden Tag so. Ich kanns nit mitansehen. Mein Wanst tut mer schon weh, ich lach mich scheckich!
– Ja, aber, Mama, warum holt sich es Dinche denn zwei völlig durchgeknallte weiße Schoßhundchen. Hat die se noch alle? Was will die denn damit?
– Ei, Kerle, das sin die zwei Hundche vom YE-BO-AH, hier, der bei der Eintracht gespielt hat, weißte doch, der mit de dicke Owerschenkel! Un der musst‘ doch Hals üwwer Kopp nach England wechseln, weil en der Heynckes aus der Mannschaft geworfen hatte. Un sei zwei scheiß Hundche konnt’er net mitnemme, weil er se in England sonst für 6 Monate in der Quarantäne hätte lasse müsse!
– Mama, Quarantäne hin oder her, aber wie kommt dann es Dinche Wolf aus Orjestee o de Lee an die zwei Hundche vom Yeboah?
Meine Mutter wirft mir einen triumphierenden Blick zu.

– Ei, weißte dass dann net?
– Nee!
– Ei, der Dieter, der Sohn vom Dinche, spielt doch seit dieser Saison bei de Eintracht und der hat‘ sich wohl gut mim Yeboah verstanne. Un als der nit wusst wo er seine Hundche lasse sollt un se schon ins Tierheim gäwe wollt, da hat halt es Dieterche gesacht: Komm her, Yeboah, ich nemm se! Ja, un eine Woche später hat er gemerkt, dass em das doch zu viel wird mit dene zwä Missgebiader – und da hat er se zu sei Mudder gebracht.
Während wir reden, jagt das ultramoderne Tanztheater vor dem Fenster von einem epochalen Höhepunkt zum nächsten. Die Hunde haben angefangen, nicht mehr nur ziellos nach allen Seiten zu springen und zu bellen. Jetzt jagen sie sich plötzlich gegenseitig und rasen in immer enger werdenden Kreisen um unsere Nachbarin herum. Da sie die Leinen eisern festhält, müssen meine Mutter und ich mitansehen, wie „es Dinche“ erst linksherum, dann rechtsherum gewirbelt wird und dabei aussieht, als absolviere sie eine absurde Hammerwurf-Übung, nur dass anstatt Eisenkugeln am Ende der Leinen weiße Fellbällchen hängen.

Meine Mutter und ich halten uns die Bäuche. Tränen schießen uns aus den Augen. Wir schnappen nach Luft. Doch noch sind wir nicht erlöst. Wir können nicht wegsehen, obwohl wir kurz davor sind, uns im wahrsten Sinn des Wortes totzulachen. Mit masochistischer Wollust verfolgen wir weiter wie gebannt das verheerende Fiasko unserer unglücklichen und bemitleidenswerten Nachbarin. Um nach dem Gebot der Nächstenliebe zu handeln, fehlt uns allerdings in unserem Zustand schlicht und einfach die Kraft. Gewiss schießen mir beim Anblick der hin- und hergerissenen Katharina Wolf Gedanken durch den Kopf wie: „Man müsste ihr zu Hilfe eilen! Warum hilft ihr denn keiner? Himmelherrgott, erbarme dich ihrer!!!“ Doch in schnappe nur krampfartig nach Luft und bin unfähig zu handeln.

Und dann kommt das große Finale. Als ob die Hunde sich abgesprochen hätten laufen sie nicht mehr nur hintereinander her sondern in jeweils entgegengesetzter Richtung um ihr Opfer herum.  Dinche werden die Arme vor dem Körper überkreuzt und bevor sie weiß, wie ihr geschieht, und bevor sie auch nur irgednetwas dagegen tun könnte, haben die Hunde bereits weitere Runden gedreht und die Leinen derart verheddert, dass unserer armen armen Nachbarin Arme und Beine gefesselt sind. Sie bleibt stehen, sie kann keinen Schritt mehr gehen. In diesem Moment sieht sie aus, wie der in eine Zwangsjacke geschnürte Große Houdini, bevor er ins Aquarium geworfen wird.

Lassen wir die Katharina dort unten stehen.

Ein – im Gegensatz zu mir und meiner Mutter – barmherziger Nachbar mag aus der Haustür gelaufen sie aus ihrer verzweifelten Lage befreit haben, ich kann mich nicht mehr erinnern.

Aber dieses eine Bild steht mir noch deutlich vor Augen: die gefesselte Katharina auf dem Dorfplatz von Argenstein an der Lahn, angebellt und angesprungen von zwei satanischen weißen Fellbällchen: dem Yeboah sai zwä Missgebiader.


Nachtrag:

– Anthony Yeboah wechselte am 10.1.1995 von der SGE zu Leeds United.
– Dieter (Name geändert) spielte von 1991 – 1995 bei der SGE und später auch beim FC St. Pauli (1998 – 2000).
– Das Vereinigte Königreich schaffte erst im Jahre 2012 die 6-monatige generelle Quarantäne für Haustiere ab.
– Die beste Leberwurstblase auf der ganzen Welt macht der Metzger Konrad Kutsch aus Ebsdorf, Bortshäuser Straße 14 in 35085 Ebsdorfergrund 2.

 

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